Mit Industrie 4.0 wurden Digitalisierung und Vernetzung in die Fertigung auf eine neue Stufe gehoben. Der Digitale Zwilling ermöglicht es, Informationen rund um Maschinen, Anlagen und Produktionsprozesse über sämtliche Stufen des Lebenszyklus hinweg zu aggregieren. Der nächste logische Schritt ist die Integration von Daten aller Bereiche, um die reale und die digitale Welt miteinander zu verknüpfen – zu einem Industrial Metaverse. Damit lässt sich im digitalen Modell die komplexe reale Welt besser veranschaulichen. Gleichzeitig schafft es die Möglichkeit, Live-Prozesse zu steuern sowie mit Simulationen und Projektionen auf Basis von Live-Daten vorausschauend zu handeln und Optimierungen vorab virtuell zu testen.
Vor rund 20 Jahren startete die virtuelle Welt „Second Life“. Gehypt von IT-Firmen und Medienschaffenden, erlangte sie zwar einiges an Aufmerksamkeit – doch die Nutzerzahlen blieben gering. Nach kurzer Zeit verschwand sie wieder in der Bedeutungslosigkeit.
Mancher mag sich an diese Episode des frühen Internet-Zeitalters erinnert fühlen, wenn nun das Metaversum (engl.: Metaverse) einen ähnlichen Hype erfährt. Die Schlagzeilen heute klingen ähnlich wie damals: E-Commerce und virtuelle Events, virtuelle Arbeitsplätze und neue Interaktionsmöglichkeiten in einem digitalen Raum sollen nicht zuletzt auch innovativen Geschäftsmodellen Tür und Tor öffnen. Hinzu kommen weitere Consumerthemen wie Gaming und Social-Media. Kein Wunder: Der Trend wird angeführt von der Facebook-Mutter Meta und anderen Tech-Größen des Silicon Valley.
Industrie vorne dabei
Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Die zugrunde liegenden Technologien sind universell einsetzbar – auch im Industriebereich. So hat sich inzwischen auch ein „Industrial Metaverse“ herausgebildet, das einige interessante Möglichkeiten bietet. Bitkom-Hauptgeschäftsführer Bernhard Rohleder sieht die Entwicklung dort definitiv weiter fortgeschritten als im Privatverbraucherbereich. Er ist überzeugt: „Das Industrial Metaverse wird in spätestens fünf Jahren für fast alle Unternehmen der Fertigungsindustrie eine Rolle spielen müssen, wenn sie wettbewerbsfähig bleiben wollen.“
Um das zu verstehen, muss man sich zunächst einmal mit der Frage befassen: Was ist das Industrial Metaversum überhaupt? Eine kurze Erklärung des IT-Branchenverbandes Bitkom lautet: „[Das Industrial Metaverse] ermöglicht im industriellen Kontext die (Echtzeit-)Interaktion mit physischen Objekten, Prozessen und Umgebungen in einer virtuellen Umgebung oder die Überlagerung der realen Umwelt mit virtuellen Inhalten.“ Oder anders ausgedrückt: Das Industrial Metaverse ermöglicht es, komplexe Strukturen und Prozesse in ein virtuelles Modell zu überführen, so dass sie einfacher zu verstehen sind.
Als zentrale Elemente gelten:
- die Verbindung zur Automatisierungstechnik (OT),
- die Nutzung von Digitalen Zwillingen und weiteren Basistechnologien der Industrie 4.0,
- eine konsistente und umfassende Datenplattform, die eine Live-Steuerung und -Darstellung sowie Simulationen auf Basis von Echtzeit-Daten ermöglicht und nicht zuletzt die Nutzung immersiver Technologien, also das Eintauchen in virtuelle Welten mittels Virtual bzw. Augmented Reality (VR/AR).
Das Industrial Metaverse ist also ein – in Teilen vielleicht vereinfachtes – Abbild der physischen Realität und ihrer Abläufe, und sie ermöglicht Interaktionen mit industriellen Prozessen und Systemen. Sei es am (Industrie-)PC per Tastatur und Bildschirm, per Touchscreen auf Tablets oder Smartphones, oder mit VR-Brillen wie der Apple Vision Pro oder der Quest von Meta.
Anwendungsbereiche des Industrial Metaverse
Daraus ergeben sich bereits heute eine ganze Reihe möglicher Use-Cases- Zu nennen sind unter anderem:
- Virtuelle 3D-Modelle: Das Industrial Metaverse ermöglicht Unternehmen, nicht nur virtuelle 3D-Modelle von Industrieanlagen und -prozessen zu erstellen bzw. bestehende Datensätze zu visualisieren, sondern auch, diese mit Echtzeitdaten darzustellen und mit weiteren Daten zu verknüpfen. Dadurch lassen sich zusätzliche Einflüsse und Abhängigkeiten berücksichtigen und darstellen.
- Supply-Chain-Management: Das Industrial Metaverse kann für das Management der Lieferkette genutzt werden. Unternehmen können die Bewegungen von Produkten und Rohstoffen in Echtzeit verfolgen und optimieren, um eine effizientere und transparentere Lieferkette zu schaffen.
- Fernwartung und -überwachung: Das Industrial Metaverse ermöglicht die Überwachung und Wartung von Maschinen und Anlagen aus der Ferne, bspw. per VR- oder AR-Applikationen. Durch die Nutzung dieser Technologien können Technikerinnen und Techniker Probleme schnell identifizieren und beheben (lassen), ohne vor Ort sein zu müssen, beispielsweise indem sie aus der Ferne Mitarbeiter vor Ort instruieren.
- Virtuelle Produktentwicklung und Simulation: Unternehmen können das Industrial Metaverse nutzen, virtuelle Prototypen zu erstellen, Tests durchzuführen und die Designs bereits zu optimieren, bevor sie erste physische Produkte herstellen.
- Training und Schulungen: Das Industrial Metaverse kann für Schulungen und Training genutzt werden. Unternehmen können virtuelle Schulungen und Trainingsprogramme erstellen, die Mitarbeitenden dabei helfen, neue Fähigkeiten zu erlernen und bestehende zu verbessern – und das gefahrlos. Auch hier bringt die Möglichkeit, Simulationen mittels Ist- und Echtzeitdaten zu betreiben, eine neue Qualität.
- Wartung und Reparatur: Das Industrial Metaverse kann für die Wartung und Reparatur von Maschinen und Anlagen genutzt werden. Technikerinnen und Techniker können virtuelle Schulungen erhalten und in einer sicheren virtuellen Umgebung üben, bevor sie tatsächlich Reparaturen an den Maschinen vornehmen.
- Erleichterung der Zusammenarbeit und Kommunikation mit Kunden und Lieferanten: Das Industrial Metaverse kann als Plattform für die Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen Industrieunternehmen und ihren Kunden und Lieferanten dienen. Eine durchgängige Datenbasis ermöglicht es, ein Digital Mock-Up (DMU) zu erstellen, auf das alle Beteiligten jeweils von ihrem Standpunkt aus blicken können: Planer, Konstrukteur, Programmierer, Betriebsleiter etc.
In Zukunft können noch weitaus mehr Punkte zu dieser Liste hinzugefügt werden – je weiter die Digitalisierung in der Industrie sowie die technische Entwicklung rund um das Metaverse voranschreiten.
Herausforderung Datenkonsolidierung – wieder einmal
Grundlage für alle Use-Cases ist die Bereitstellung der entsprechenden Daten. Die kommen aus ganz unterschiedlichen Bereichen. Darunter finden sich ERP-Daten ebenso wie 3D-Modelle, daneben Sensor- und Maschinendaten, Prozess- und Steuerungsdaten sowie Daten zu Produktion, Wartung, aus dem IoT (Internet of Things) und aus der Leistungsanalyse – also auch Live-Daten.
Wie auch bereits in vorangegangenen Entwicklungsschritten, beispielsweise der Modularisierung von Industrie-Anlagen oder der Verwaltungsschale, die Informationen über alle Stufen des Lebenszyklus hinweg sammeln und bereitstellen soll, steht und fällt das Konzept mit der Konsolidierung der zur Verfügung stehenden Daten. Während auf der einen Seite der Druck auf die Anwender steigt, strategische Weichen zugunsten einer gemeinsamen Basis über verschiedene Abteilungen und Anwendungen hinweg zu stellen, kommt dieser Druck auch bei den Software-Anbietern an. Sie sind es, die den ungestörten Datenfluss ermöglichen müssen – beispielsweise mittels Schnittstellen oder der Unterstützung offener Datenformate.
Ein Beispiel ist das Datenformat USD (Universal Scene Description), das die Be- und Verarbeitung von 3D-Szenen über verschiedene Plattformen hinweg ermöglicht, wie sie auch in Simulationen und in VR/AR-Umgebungen genutzt werden.
Welche Anwendung darf es denn sein?
Eng verknüpft mit den Use-Cases ist die Frage, auf welcher technischen Plattform ein Industrial Metaverse realisiert werden soll. Denn es gibt unterschiedliche Möglichkeiten auf dem Weg in das virtuelle Multiversum, bestehende und neue Lösungen, die jeweils verschiedene Schwerpunkte setzen, miteinander zu verknüpfen. Zu den wichtigsten Anbietern zählen derzeit Nvidia (Omniverse), Siemens (Xcelerator), Dassault Systèmes (3D Experience), Unity (diverse Lösungen, darunter die 3D-Engine Unreal) oder auch Autodesk mit seinem 3D-Portfolio für industrielle Anwendungen.
Die Experten von EDAG haben ein umfangreiches Wissen um verfügbare Anwendungen, ihre Stärken und Schwächen sowie deren Funktionsumfang. Sie können Unternehmen fachkundig dabei beraten, ihr Applikationsportfolio so anzupassen, dass es den operativen Erfordernissen ebenso genügt wie den Herausforderungen, die sich aus der Nutzung des Industrial Metaverse ergeben. Hier ergeben sich schnell Stolpersteine, die teils technischer Natur, teils den Prozessen und Konzepten der Digitalisierung geschuldet sind. Dazu gehören beispielsweise:
- Mangelnde Standardisierung.
- Komplexe Datenintegration;
- Datenschutz und Sicherheit;
- Technische Komplexität;
- Performante Anbindung;
- Akzeptanz und Wissenstransfer;
Nicht zu vergessen die Kosten für die Implementierung und die laufende Weiterentwicklung bzw. die Frage der Rentabilität, sprich: ob sich das Investment auch wirtschaftlich lohnt.
Auf neuen Wegen zu einer höheren OEE
Letztlich zahlt ein Industrial Metaverse auf die gleichen Punkte ein wie jede andere Optimierung von Produktion und Fertigung in der Industrie. Gesteigerte Overall Equipment Effectiveness (OEE), Kosteneinsparungen durch das Vermeiden oder frühere Erkennen von Fehlern, höhere Kundenzufriedenheit, bessere Zusammenarbeit, höhere Flexibilität, gesteigerte Sicherheit und umweltschonenderes Arbeiten. So gesehen ist das Industrial Metaverse ein weiteres Tool, um diese Unternehmensziele zu erreichen – möglicherweise schneller und einfacher als mit anderen Methoden. Unternehmensverantwortliche sollten sich deshalb zügig mit dem Thema auseinandersetzen, um auf einer tragfähigen Wissensbasis entscheiden zu können, ob das Industrial Metaverse ihnen einen Vorsprung im Wettbewerb liefern kann.
Spannend ist es vor allem, sich in praktischen Beispielen anzuschauen, wie diese Effekte erreicht werden können. Antworten dazu und zu vielen weiteren Fragen liefert der EDAG-Couchtalk „Industrial Metaverse“. In dem knapp 40-minütigen Talk werden folgende Themen beleuchtet und anhand praktischer Beispiele und Erfahrungen diskutiert:
- Das Fundament des Industrial Metaverse;
- Industrial Metaverse Use-Cases;
- Digitaler Zwilling versus Industrial Metaverse;
- Ungeahnte Möglichkeiten im industriellen Metaverse;
- Kollaboratives Arbeiten;
- Wie loslegen? Strategie. Technologien. Partner.
Weitere Details liefert Ihnen das Whitepaper „Industrial Metaverse – Die Revolution der Fertigung“ der EDAG-Tochter Feynsinn, das hier zum Download steht. Sie können ebenfalls gerne mit unserem Metaverse-Experten Dr.-Ing. Frank Breitenbach, Senior Expert Planning Methodology bei EDAG Production Solutions sprechen. Oder registrieren Sie sich kostenlos für die Webinar-Aufzeichnung des Industrial Metaverse Events hier.