Wie wäre es, wenn die Konstruktion eines elektrischen Antriebsstrangs nicht mehr darin besteht, einen Motor, ein Getriebe und ein Gehäuse sowie die Batterie zu definieren – sondern lediglich den Weg zur angestrebten Lösung? Die DNA als „Bauanleitung“ für einen generativen Entwicklerprozess macht sich insbesondere dann bezahlt, wenn eine Vielzahl von Optionen zur Auswahl steht oder verschiedene Varianten oder Derivate benötigt werden. EDAG Drivetrain Systems setzt wegen der effizienteren Prozesse und der höheren Qualität der Ergebnisse auch in diesem Segment auf Generative Engineering mit Hilfe der Software Synera.
Die Natur hat einen Weg gefunden, wie sich Organismen optimal an ihre Umgebungen anpassen können: Die Evolution. Kleine, zufällige Abweichungen im Erbgut führen in den folgenden Generationen zu veränderten Eigenschaften. Bieten sie dem Lebewesen einen spürbaren Vorteil, hat es bessere Chancen zur Fortpflanzung, so dass sich diese genetische Varianten gegenüber anderen durchsetzen.
Immer wieder überraschend ist, wie effizient Mutter Natur bei der Problemlösung zu Werke geht. So ist es nicht verwunderlich, dass Ingenieure versuchen, solche Strategien in sogenannten bionischen Lösungen nachzuahmen – wie etwa eben die Evolution beim „Generative Engineering“. Eine Entwicklung nach dem Prinzip „Survival of the fittest“ bewährt sich insbesondere in Fällen, bei denen komplexe Probleme mit einer großen Zahl möglicher Optionen bei den verwendeten Komponenten oder mit der Anforderung von vielfältigen Varianten beim Endprodukt zusammentreffen.
Ein Beispiel ist die Entwicklung von elektrischen Antrieben, die eine Vielzahl von Einflussfaktoren zulassen, aber auch höchst unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden müssen. Hier eine optimale Auslegung zu finden, ist bislang ein aufwändiges Unterfangen – und ob die gefundene Lösung tatsächlich nahe am Optimum ist, kann kaum seriös beantwortet werden.
Hohe Komplexität – hoher Aufwand
Der Antriebsstrang einer industriellen Anwendung kann ganz unterschiedlich aufgebaut sein. Das beginnt schon beim verwendeten Elektromotor, das Spektrum umfasst fremderregte Synchronmaschinen sowie Asynchron- und Synchronmotoren. Ausschlaggebend sind Anforderungen wie Drehmoment am Rad, maximale Geschwindigkeit und elektrische Leistungsgrößen.
Die Antriebe werden ergänzt um unterschiedliche Getriebe, mit spezifischen Kombinationen von Wellen und Lagern. Und nicht zuletzt können auch verschiedene Gehäusevarianten eingesetzt werden. Daraus ergibt sich ein unüberschaubarer Variantenreichtum, aus dem es gilt, geeignete Kombinationen zu entwickeln und die vielversprechendsten herauszusieben.
Die bisherigen Verfahren sind mit hohem manuellem Aufwand verbunden. So teilt sich die Entwicklung eines Antriebsstrangs in mehrere Teilaufgaben auf, für die jeweils getrennt iterative Prozesse zur Entscheidungsfindung und Optimierung notwendig sind. Problematisch ist es, bei diesem Verfahren auf bestehende Abhängigkeiten einzugehen. In komplexen Systemen sind diese schwer erfassbar, ebenso schwierig ist es, bei der arbeitsteiligen Entwicklung diese zu berücksichtigen.
Zudem besteht stets die Gefahr, dass sich so gefundene Modelle als instabil erweisen, sprich: Dass geringe Veränderungen von Randbedingungen die Ergebnisse „kippen“ lassen und das Lösungsdesign von Optimum wegführen. Dann muss die Entwicklungsarbeit nochmals einen Schritt weiter zurückgehen, was zu langwierigen und kostenintensiven Prozessen führt. Gerade beim Entwickeln von Varianten und Derivaten ist es besonders ärgerlich, wenn die bisherigen Lösungen kaum wiederverwendet werden können, sondern der Entwicklungsprozess weit vorne neu gestartet werden muss.
Evolutionäre Prozesse in der Antriebsentwicklung
Die Experten der Abteilung Drivetrain Systems von EDAG haben Wege gefunden, diesen Problemen effizient zu begegnen. Sie setzen in Teilen auf einen evolutionären Prozess mit geringem manuellem Aufwand und haben einen automatisierten Workflow geschaffen, der schnell zu tragfähigen Lösungen führt. Dazu haben sie das Projekt „EAGEL“ (Elektrische Antriebe – Generative Engineering Lighthouse) aufgesetzt.
Grundlage ist das Beschreiben des gesamten Prozesses als fortlaufende Teilaufgaben, die alle auf die gesetzten Anforderungen und Randbedingungen hinarbeiten. Diese dienen als Ausgangsbasis, quasi als DNA, für ein Generative Engineering.
Konkret bedeutet das für die Entwicklung eines Antriebsstrangs, dass in Form einer Excel-Tabelle verschiedene Anforderungen, einschließlich allgemeiner, Getriebe-, E-Maschinen- und Gehäusespezifikationen bzw. -anforderungen. Auf dieser Basis wird innerhalb weniger Minuten eine Vielzahl von Antriebskonzepten erzeugt. Zeigt sich, dass die Ergebnisse nicht den Bedürfnissen des Entwicklers entsprechen, kann mit Anpassungen der Vorgaben schnell ein Redesign des Konzeptmodells erfolgen. Eine solche Optimierung liefert innerhalb von 20 Minuten 100 neue Designs zur Auswahl.
Dabei erfolgt zunächst eine Auslegung der Komponenten (E-Maschine und Getriebe mit Wellen und Lagern) mit Ableitung von CAD-Modellen, Visualisierungen sowie Lookup-Tabellen. Weiterhin findet eine Optimierung des gesamten Systems statt, indem zum Beispiel eine ideale Getriebetopologie in Abhängigkeit der E-Maschine gefunden wird. So wird in kürzerer Zeit ein besseres und praktikableres Konzept ermittelt, als es mit manuellen Verbesserungsschritten möglich wäre.
Als Output steht am Ende ein optimiertes 3D-Parametermodell in Synera und CATIA zur Verfügung. Aufgrund der hohen Iterationsgeschwindigkeit kommt man schneller zum Optimum der angestrebten Entwicklung.
Mit Generative Engineering zu mehr Effizienz
An Stelle des etablierten Wasserfall-Modells, arbeitsteilig und sequenziell in aufeinanderfolgenden Phasen, tritt nun ein automatisierter Workflow, der manuelle Tätigkeiten erheblich reduziert. Denn es wird nicht mehr in Prozessschritten gedacht, die einzeln zu optimieren sind, sondern in einer Entwicklung als Gesamtprozess, der einem gewissen Regelwerk unterworfen ist. Und dieses Regelwerk muss soweit angepasst werden, dass es am Ende die optimalen Ergebnisse liefert.
Ein weiterer Aspekt dieses Entwicklungsmodells ist die engere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Entwicklerteams. Nicht selten hat sich aus der Arbeitsteilung eine Silo-Struktur entwickelt, die den Datenaustausch behindert und eine 360-Grad-Betrachtung der Gesamtlösung erschwert. Mit dem generativen Entwickleransatz wird dieser Trend wieder umgedreht und ein gemeinsamer Prozess etabliert.
EDAG setzt dabei auf die Software Synera, mit deren Hilfe sich der gesamte Entwicklungsprozess als automatisierter Workflow aufbauen lässt. Dabei wird in der Software nicht mehr die Lösung selbst erstellt, sondern der Weg zum gewünschten Antriebsstrang. Sprich: Es wird eine Bauanleitung als DNA definiert. Der Workflow kann dann beliebig oft durchlaufen werden, so dass der Entwickler nicht mehr jeden einzelnen Antriebsstrang einzeln konstruieren muss, sondern durch geringfügige Anpassungen der Randbedingungen die jeweils optimale Lösung für die gerade gestellten Anforderungen erhält.
Die Vorteile liegen auf der Hand:
- Beschleunigung des Entwicklungsprozesses;
- Erschließung bislang nicht berücksichtigter Lösungen;
- Bessere Annäherung ans Optimum.
Insbesondere bei der angespannten Lage auf dem Arbeitsmarkt ist der effiziente Einsatz der verfügbaren Fachkräfte ein wesentlicher Wettbewerbsvorteil. Nicht nur das Kosten gespart und attraktivere Projektpreise möglich werden. Sondern auch die Zahl bzw. der Umfang der mit der bestehenden Mannschaft zu bewältigenden Projekte erhöht sich.
Ein weiterer Aspekt ist das Sichern von Know-how im Unternehmen: Das Wissen der Mitarbeitenden wird im Code bzw. dem Workflow gespeichert. So geht es nicht verloren, wenn Know-how-Träger das Unternehmen verlassen.
Breites Anwendungsfeld für generative Prozesse
Mit diesem von der Natur abgeschauten Ansatz können nicht nur Antriebsstränge schneller, effizienter und besser konstruiert werden. EDAG hat dieses Prinzip bereits in verschiedenen Produktbereichen erfolgreich umgesetzt. Ein Beispiel ist die Entwicklung von Hairpin-Statoren für Elektromotoren. Mit Hilfe des Generative Engineering konnte die Entwicklungszeit für Statoren inklusive der benötigten Derivate, die sich beispielsweise nach Zahl der Pins, Lagen oder den Gesamtabmessungen unterscheiden, um bis zu 50 Prozent reduziert werden. Zudem lieferte der evolutionäre Prozess Statorenmodelle, die deutlich leichter als bisherige Lösungen waren und damit dazu beitragen, dass Elektromotoren mit weniger Gewicht gebaut werden können.
Eine weitere Anwendung ist die Erstellung von ISOFIX-Halterungen für Kindersitze. Das Grundprinzip des ISOFix-Systems ist immer gleich, so dass jeder ISOFIX-kompatible Kindersitz damit befestigt werden kann. Jedoch müssen die tatsächlichen Anbindungspunkte für das System für jede Karosserieform und jedes Fahrzeug neu angepasst werden. Auch Kleinserienfahrzeuge und spezielle Fahrzeugderivate verzichten nicht mehr auf diese wichtige Sicherheitseinrichtung. So ergibt sich eine hohe Derivatenvielfalt, die sich mit Hilfe des Generative Engineerings problemlos bewältigen lässt. Auch für neue Fahrzeugtypen und -modelle lässt sich mit leichten Anpassungen der DNA schnell und einfach das passende Bauteil konstruieren.
Entwicklung optimaler Batteriespeicher
Als außergewöhnlich hilfreich hat sich die Automatisierung des Entwicklungsprozesses mit Synera auch im Bereich von Batteriespeichern erwiesen. Denn beim Packen der Batteriezellen treffen viele verschiedene Einflussfaktoren aufeinander. So können die Rahmen für den Batteriespeicher unterschiedliche Formen und Höhen aufweisen, dazu kommt die Vielfalt der Batteriezellen, die sich in Form und Charakteristik unterscheiden. Daneben stellt sich die Frage, welches Spannungsniveau – 400 V oder 800 V – erreicht werden soll, und welchen Stellenwert Gewicht, Energie-Inhalt und Spitzenleistung einnehmen.
Bereits in einer frühen Entwicklungsphase jenes Batteriekonzept zu finden, das am Besten zu den gestellten Anforderungen passt, ist sehr aufwändig und zeitintensiv. Aufgrund der Vielzahl der genannten Freiheitsgrade sind so viele Varianten denkbar, dass es nicht möglich ist, diese alle manuell durchzurechnen und konzeptionell zu konstruieren. So muss man konzeptionelle Überlegungen anstellen und sich auf einige wenige Varianten beschränken, die wahrscheinlich die besten Ergebnisse bringen. Unter diesen kann man dann anhand der gewonnenen Ergebnisse das vielversprechendste Konzept auswählen und weiterverfolgen. Ob das allerdings tatsächlich nahe am Optimum ist, oder ob man aufgrund falscher Annahmen und Festlegungen davon ein ganzes Stück entfernt ist, lässt sich so nicht feststellen.
Im Rahmen des Projekts „BatCon“ entwickelte EDAG daher einen automatisierten Workflow, der sehr viel mehr Varianten erproben kann. Anhand der gestellten Anforderungen, wie beispielsweise Nennspannung und Spitzenleistung, dem aus dem CAD-System vorgegebenen Bauraum und einer Vorauswahl der 140 in einer Datenbank gespeicherten Zelltypen errechnet das Programm, wie die Zellen in den Bauraum eingepasst werden können. Dabei wird auch gleich die Verschaltung der einzelnen Zellen berücksichtigt, ebenso weitere mechanische und elektrische Eigenschaften berechnet. Über die gefundenen Ergebnisse wird ein automatisierter Bericht erstellt, der die unterschiedlichen Eigenschaften der verschiedenen Varianten gegenüberstellt.
Beim Test mit der von EDAG selbst entwickelten Entwurfsraum zeigte sich ein überraschendes Ergebnis: Dass die Zelle mit der höchsten Energiedichte auf Zellebene nicht automatisch zu einem Batteriesystem mit höchster Energiedichte führt. Dies ist auf Packaging-relevante Faktoren, wie beispielsweise mögliche Bauraumausnutzung, zu berücksichtigende Zellabstände und ähnliches zurückzuführen. In einem anschließenden Schritt wird übrigens die Reichweite per Matlab ermittelt, wobei neben der Kapazität auch das Gewicht und weitere Einflussfaktoren berücksichtigt werden. Hierbei zeigte sich, dass das Konzept gegenüber der zunächst präferierten Hochenergie-Zelle eine deutlich höhere Reichweite ermöglicht – ein enormer Unterschied bei der Kundenansprache.
Universell einsetzbares Werkzeug
Und damit ist das Anwendungsfeld noch lange nicht ausgeschöpft. Die Entwicklungsexperten von EDAG haben bereits überlegt, in einem nächsten Schritt die Batteriespeicher-Berechnung mit der Entwicklung des restlichen Antriebsstrangs zu verknüpfen, so dass die Charakteristik der Batterie direkt als Information in die Auswahl von Motor und Getriebe mit einfließt. Sprich: Der Workflow wird noch stärker integriert.
Darüber hinaus können die Lösungen auch auf Entwicklungsprozesse weiterer Produkte oder Anwendungen übertragen werden, wenn Kunden dafür Interesse zeigen.
Haben Sie auch mit hohen Kosten und langwierigen Prozessen bei der Entwicklung von Antriebssträngen oder anderen Baugruppen zu kämpfen? Dann sprechen Sie mit unserem EAGEL-Experten Michael Schramm, Development Engineer Drivetrain Systems, über die Vorteile der neuen Entwicklungsmethode. Oder laden Sie sich hier das Whitepaper „Generative Engineering – schneller zum Bauteil“ herunter, in dem ausführlich beschrieben wird, wie dieses Konzept funktioniert, wie sich der Workflow automatisieren lässt und welche Tools dafür zum Einsatz kommen.